|
||
Saarlouis . Roden . Heimatforschung . Forschung . heimatforschung.rodena.de . www.heimatforschung.rodena.de . Gemeinschaftsseite | ||
|
||||
Die Geschichte der Arbeiterbewegung im Saarreviervon Josef Theobald
Die Geschichte der Arbeiterbewegung im Saarrevier Im Allgemeinen werden die Zustände während der industriellen Revolution wie folgt skizziert: "Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten da- mit die ganze Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Der schläf- rige Entwicklungsgang der Manufakturzeit verwandelte sich in eine wahre Sturm- und Drangperiode der Produktion. Mit stets wachsender Schnelligkeit vollzog sich die Scheidung der Gesellschaft in große Ka- pitalisten und besitzlose Proletarier, zwischen denen, statt des frühern stabilen Mittelstandes, jetzt eine unstete Masse von Handwerkern und Kleinhändlern eine schwankende Existenz führte, der fluktuierendste Teil der Bevölkerung... Aber schon damals erzeugte sie schreiende soziale Mißstände: Zusammendrängung einer heimatlosen Bevölke- rung in den schlechtesten Wohnstätten großer Städte - Lösung aller hergebrachten Bande des Herkommens, der patriarchalischen Unter- ordnung, der Familie - Überarbeit besonders der Weiber und Kinder in schreckenerregendem Maß - massenhafte Entsittlichung der plötz- lich in ganz neue Verhältnisse, vom Land in die Stadt, vom Ackerbau in die Industrie, aus stabilen in täglich wechselnde unsichere Lebens- bedingungen geworfenen arbeitenden Klasse." (Marx/Engels ,Ausge- wählte Schriften in zwei Bänden, Band II im Dietz Verlag, Berlin-Ost 1966, Seite 111) [1] Die Antwort hierauf war die Bildung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die sich in zwei Stufen entwickelte. So kam es erst im Mai 1875 zum Gothaer Vereinigungskongress, indem der lassalleanische Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (dem rechten Flügel) mit der Eisenacher Partei unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht (dem linken Flügel) vereinigt wurden. Erst im Oktober 1891 wurde auf dem Erfurter Parteitag ein im Vergleich zum früheren Gothaer Programm fortschrittlicheres Parteiprogramm verabschiedet. Im Saarrevier [2] verlief die Bildung einer Arbeiterbewegung im wesentlichen anders. Hier spielte vor allem der konfessionelle Gegensatz zwischen der protestantischen Oberschicht und der katholischen Unterschicht eine wesentliche Rolle, der zu einer Etablierung der deutschen Zentrumspartei gerade in diesem Raum beitrug. Dabei führte das Erlebnis einer Krisenanfälligkeit proletarischer Existenz an der Saar zu einem wohl einzigartigen Aufschwung der Volksfrömmigkeit. Das Trauma des sozialen Abstiegs wurde hier durch Parteinahme für die im Kulturkampf bedrohte Kirche beantwortet. Die kleine sozialdemokratische Parteigruppe, die eineinhalb Jahre vergebens versucht hatte, im Saarrevier Fuß zu fassen, war im September 1877 in fast gänzlicher Auflösung begriffen. Während die Gruben und Hütten an der Saar zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein noch kaum nennenwertes Ventil für den wachsenden Bevölkerungsdruck boten, brachte plötzlich der Eisenbahnbau den Durchbruch. Die Zahl der Bergarbeiter in den preußischen Saargruben stieg überproportional. So be- trug sie im Jahre 1850 erst 4.580, 1870 bereits 15.662. Die Siedlungsverteilung um 1800 wurde während der industriellen Revolution gar auf den Kopf gestellt. Denn die Agrargebiete im Norden und Nordwesten gaben ihren Bevölkerungsüberschuss an das Bergbaurevier ab; sie blieben jedoch weiterhin Arbeiter- rekrutierungszone und zugleich Wohnort für gut ein Drittel der Belegschaft. Die schon 1575 reformierte Grafschaft Nassau- Saarbrücken besaß seit der Mitte der 1850er Jahre auf einmal eine katholische Bevölkerungsmehrheit. Da standen 1875 in den preußischen Saargruben 17.318 katholischen Bergleuten 6.069 evangelische Kollegen gegenüber. Im Ergebnis kamen die katholischen Bergarbeiter, die aus kurtrierischen und auch lothringischen Gebieten zuwanderten oder einpendelten, als Fremdkörper in eine protestantisch dominierte Welt. Die meisten Zivil- und Bergbeamten, Händler und Handwerks- meister der Industriegemeinden lebten oft nicht nur in einem anderen Sozialmilieu, sie unterschieden sich auch ferner im Glaubensbekenntnis. Die sozialen und kulturellen Unterschiede deckten sich mit den konfessionellen; der politische Gegensatz zwischen Zentrum und Liberalismus kam schließlich als weitere Widerspruchsebene hinzu. In der Religionssoziologie wird der berufliche Erfolg im Kreis der Protestanten mit dem kalvinistischen Einfluss begründet, der vor allem dazu führte, dass in der unsichereren Vorstellung hinsichtlich des Auserwähltseins die Menschen danach streben, durch ununterbrochene Arbeit und systematischer Selbstkontrolle Zuversicht in die göttliche Gnade zu gewinnen und die Gemütsruhe zu wahren. Dies förderte die Rationalisierung des Berufslebens. Durch den Prozess der Modernisierung der regionalen Wirtschaft geriet die bäuerliche Weltordnung und der bisherige Horizont der gewohnten Sinngebung ins Wanken. Umso heftiger klammerten sich die Bergarbeiter der ersten Generation an die Religion als Orientierungsmedium, umso wichtiger wurden die überlieferten Traditionen der Volksfrömmigkeit, wurden Normen und Formen des dörflich ererbten Brauchsystems. Für die katholischen Klein- bauern, die sich mit einem Mal als Industriearbeiter in der vor Ort spürbaren protestantisch dominierten bürgerlichen Gesellschaft wiederfanden, gewann die Religion als Instrument der Lebens- deutung und Weltorientierung neue Bedeutung. Sie ermöglichte Rückzug und Identität, erfüllte das Bedürfnis nach Vergemein- schaftung, garantierte das Ergebnis emotionaler Geborgenheit und die Entlastung von Schuldgefühlen, während der neue Alltag immer wieder das Moment der Ausgrenzung und der Heimatlosig- keit bereit hielt. Das katholische Glaubensbekenntnis wurde zum wichtigen Element proletarischer Überlebensstrategie, zum not- wendigen Fluchtpunkt der Arbeiterexistenz. Der Kultus und das soziale Eigenleben der katholischen Kirchen- gemeinden wurden ein Kraftquell zur Selbstbehauptung innerhalb einer von protestantischer Leitungsethik geprägten Gesellschaft, die sich bedrohlich schnell veränderte. Katholischer Glaube und Proletarisierung wurden in den Jahrzehnten des "großen Spurts" an der Saar weitgehend als identisch empfunden. Diese Gleich- setzung prädestinierte einerseits den Katholizismus in Richtung einer Unterschichtenreligion, andererseits machte sie aber das protestantische Bürgertum und die Bauernschaft im Saarrevier verständnisloser. Die mit der Romantik einsetzende katholische Bewegung hatte sich bei der Konstituierung neuer innerkirchlicher Strukturen zu einem frühen Zeitpunkt das Prinzip des Vereinswesens zunutze gemacht. In Anlehnung an die organisatorischen Vorbilder der Kolping'schen Gesellenvereine und der marianischen Sodalitäten gründete der Ottweiler Pfarrer Johann Anton Joseph Hansen am 2. Dezember 1865 die erste St. Barbara-Bruderschaft, vier Jahre später den ersten Knappenverein im Saarrevier. Indem die Bruder- schaften die religiöse Komponente betonten, strichen die Knappen- vereine die gesellige Seite heraus. Ein gewähltes Mitglied leitete als Präfekt die Organisation, aber durch die Präsidesverfassung behielten die Ortsgeistlichen jedoch den bestimmenden Einfluss. Während die Ottweiler St. Barbara-Bruderschaft 1863 zur Erz- bruderschaft erhoben wurde und sich in den folgenden Jahren Filialkongregationen in den meisten Bergarbeiterorten angliederte, beschloss eine Konferenz in Neunkirchen am 4. September 1867 die Bildung eines allgemeinen "Saarbrücker Knappenvereins" mit Sitz in Dudweiler; damit löste der dortige Pfarrer Matthias Oester- ling Hansen als geistiges Oberhaupt der katholischen Bergmanns- vereine ab. Außerdem verstanden sich Knappenvereine und St. Barbara-Bruderschaften als Traditionsträger der ständischen Bergbauverfassung; in enger Verbindung mit der populären Hagiographie vermittelten sie die Tugenden der Genügsamkeit, Pflichterfüllung und Subordination, der Entsagung und duldsamen Bescheidenheit und verlängerten so die Erziehungsintentionen des preußischen Bergfiskus in die Privatsphäre. Die neuen Organisationen fungierten in erster Linie als Instrumente pfarrgemeindlicher Seelsorge und Mission und stellten sich weiterhin die Aufgabe der "sittlichen Veredelung" durch Belehrung und Gebet. Als religiöse und soziale Stütze in einer noch fremden Umgebung, als Ort der Akkulturation und Vergemeinschaftung entsprachen sie durchaus den Bedürfnissen ihrer Mitglieder, deren Engagement im gleichen Maße in der Hoffnung auf ein Jenseits und im Geselligkeits- verlangen begründet war. Der das Jahr umspannende katholische Festkalender bestimmte auch die bergmännischen Vergnügungs- und Geselligkeitsformen, bot eine religiöse Sinngebung und gleichzeitig Entlastung vom Alltag, schuf gleichermaßen den Anlass zu trinkfreudiger Ausgelassenheit und zur liturgischen Feier. Regierung und Bergverwaltung versuchten zwar mehrfach, die Kirchweihfeste auf einen Tag zusammen zu legen und das rege Wirtshausleben durch einen Konzessions- stopp einzuschränken, dennoch blieben Alkohol und Kneipe eine der wenigen kollektiven Vergnügungen, die in den Berg- arbeiterdörfern zu Gebote standen. Trotz des pfarrherrlichen Jammers über den durchgängigen Mangel an keuchen Braut- paaren wurden die Konsequenzen einer vorehelichen Sexualität durch frühe Heirat aufgefangen. Die Kinder wurden einfach ehelich gemacht, wie der gebräuchliche Terminus bis in unsere Tage lautet. Die Hochzeit mit schwarzem Schleier brachte religiöse Moral und Geschlechtlichkeit wieder in Einklang. Zwischen der kirchlich pro- klamierten Sittlichkeit und dem Alltagsverhalten der erzkatholischen Bergarbeiter klafften also Lücken; die Moral der Amtskirche und die Moral des Volkes deckten sich keineswegs. Im Wahlkreis Saarburg-Merzig-Saarlouis mit einer erdrückenden katholischen Bevölkerungsmehrheit und der weitgehend fehlenden Großindustrie verlief der Formationsprozess des Zentrums [3] trotz der einsetzenden staatlichen Repressionen relativ problemlos; seit dem 22. September 1872 erschien hier die "Saar-Zeitung", die in kurzer Zeit zum Sprachrohr der katholischen Interessen im Revier wurde. Der Wahlkreis Saarbrücken mit seinen drei Saarstädten war eine liberale [4] Hochburg, Ottweiler-St. Wendel-Meisenheim galt als die Domäne der Freikonservativen [5]. Der junge Kaplan Georg Fried- rich Dasbach, der bald zum katholischen Pressezar der Rheinprovinz avancierte, sollte über drei Jahrzehnte hinweg für das Zentrum die politische Eroberung vorantreiben. Der Prozess der Proletarisierung, der als Statusverlust, als eine Erfahrung betrieblicher und gesellschaftlicher Herrschaft erlebt wurde, bildete seinen sozialen Resonanzboden. Der kommende Zusammenprall sowohl von vorindustrieller Lebenswelt als auch aufgezwungener Produktionsdisziplin fand Entsprechung, Echo und Überhöhung im Zusammenstoß zwischen jungem National- staat und katholischer Kirche. Die Parteinahme der Bergarbeiter im Kulturkampf unter Bismarck war eigentlich Protest gegen die religionspolitischen Ansprüche des neuzeitlichen Staates, aber auch Protest gegen die verfolgten Strategien der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung, die die Bergleute den Zwängen einer verordneten Arbeitsmoral unterwarfen. So gelang es dem katholischen Klerus im folgenden Jahrzehnt, den während des Kulturkampfes gewonnenen Kredit politisch zu nutzen und sich als Interessenvertreter der Unterschichten zu profilieren; das die Siebziger Jahre beherrschende kirchenpolitische Thema trat in der Phase der Milderungsgesetze allmählich zurück, die Sozial- politik schob sich in den Vordergrund. Denn die Lage der Arbeiter im großen Industrie- und Bergwerksgebiet an der Saar (Kohlen- revier) war von aktueller Bedeutung. In den damaligen revolutionären Kreisen galt aber dieser Kultur- kampf als eine Torheit (Dummheit), da er so die Aufmerksamkeit gewisser Schichten der Arbeiterklasse und die Demokratie von den dringenden Aufgaben des revolutionären Kampfes auf einen ganz oberflächlichen und bürgerlich-verlogenen Antiklerikalismus ablenkte. Bismarck habe infolge dieses Kampfes den streitbaren Klerikalismus der Katholiken nur gestärkt. [6]
Nach der Camphauser Grubenkatastrophe am 18. März 1885 - unter denen 180 Toten waren 154 Katholiken - beschuldigten "St. Johanner Zeitung" und "Saar-Zeitung" die Bergbehörde, zu wenig für die Sicherheit der Bergarbeiter zu unternehmen. Seitdem avancierte Kaplan Dasbach quasi zur Beschwerde- instanz der Bergleute. 1887 wirkte er an der Gründung des "Sozialpolitischen Vereins für den Industriebezirk Saarbrücken mit, der Material über die Lage der Bergarbeiter sammelte und der von Franz Hitze redigierten Zeitschrift "Arbeiterwohl" zur Verfügung stellte. Im selben Jahr konstituierte sich eine soziale Konferenz des Saarklerus unter Vorsitz des Sulzbacher Pfarrers Hermann Laven, der eine wirkungsvolle Satire gegen die sozialen Zustände im Saarrevier verfasste, die 1881 unter dem Titel "Der Sang von Lao Fumtse" zunächst im Feuilleton der "Saar-Zeitung" erschien. Dabei ging es hier um das Leben des Bergmannes Lao Fumtse [7] und schließlich um eine Enthüllung der allseits üblich gewordenen Korruptionspraktiken in den Saargruben. Hatte man bisher die materiellen Interessen im katholischen Arbeitervereinswesen negiert, in patriarchalischer Absicht auf Organisationen mit dem Zweck der Arbeiterbetreuung gesetzt, so beugte man sich jetzt der normativen Kraft des Faktischen. Der Rechtsschutzverein schien also für diese Intentionen wie geschaffen: Katholiken bildeten hier die absolute Mehrheit der Mitglieder, Sozialdemokraten waren nicht existent. Die junge Bergarbeiterorganisation an der Saar drängte sich damit als ein Experimentierfeld für die Tragfähigkeit einer katholischen Gewerkschaftsstrategie gerade zu auf. Sie bot die Chance der Gewinnung des Reviers für das Zentrum, aber auch die Gefahr einer Entwicklung zur autonomen Gewerkschaft. Allmählich setzte sich auch im aristokratisch-konservativen Honoratiorenflügel die Meinung durch, dass bei der augen- blicklich veränderten Lage nicht die Abwehr gegen Angriffe auf den Protestantismus Vorrang haben müsse, sondern die Bekämpfung des Antichristentums und der sozialen Irrtümer der Gegenwart. Bei diesem Hintergrund entstand im Oktober 1890 der "Volksverein für das katholische Deutschland" als ein antisozialistischer Bildungsverein zur Propagierung einer christlichen Sozialreform. Mit dieser Drehung um die eigene Achse des politischen Katholizismus in Deutschland begann im Saarrevier eine Distanzierung des Klerus von der Bergarbeiterbewegung. Fortan stand im Vordergrund eine Immunisierung gegen die Sozialdemokratie und ein Appell an die "Reform der Herzen" rückte in den Mittelpunkt der Versammlungen. Diese neuen gesellschaftlichen Grundwerte des plötz- lichen Gesinnungswandels schöpfte man aus dem klösterlichen Leben, wie Armut, Gehorsam, sexuelle Enthaltsamkeit. Dies hatte schließlich zur Folge, dass eine Mitarbeit katholischer Arbeiter in den bestehenden Gewerkschaften im klerikalen Lager kaum noch seine Befürworter fand. In dieser Situation wurde dann in der Fuldaer Pastorale vom 23. August 1890 bereits schon eine konfessionell orientierte Fachvereinsbewegung angekündigt, die sich als Rechtsschutzverein in Halle ebenfalls an der Gründung des Bergarbeiterverbandes beteiligte. Damit waren die beiden wichtigsten Linien in der Beziehung der Bergleute zur Kirche und Religion in der Streikzeit: Festhalten am religiösen Brauchtum und gleichzeitige Absage an klerikale Bevormundung, also ein ambivalentes Verhältnis, das naturgemäß Irritationen mit sich bringen musste, das eine Zerreißprobe innerhalb der Bergarbeiterschaft herbeiführte, je mehr die Kirche die alten Forderungen nach Loyalität gegen das gerade neu entstandene Kollektivbewusstsein ins Spiel brachte. Allerdings wurde dem Klerus die "Position eines natürlichen Führers" zunehmend abgestritten und von der Kirche mehr Abstinenz in gewerkschaftlichen Fragen gefordert. Weiter ist der Raum beruflicher und sozialer Interessenvertretung als eigenes Territorium reklamiert worden. Allein die Religion an sich, ebenso die Autorität des Kaisers, blieb hier die wohl herrschende Legitimationsgrundlage beim Protest. Die hierdurch erreichte partielle Emanzipation vom Regelwerk des kirchlich gebilligten Verhaltenskodex besaß darüber hinaus eine wichtige Stütze im Alltagsleben. Bei aller Frömmigkeit ließ sich die Bergarbeiterbevölkerung keineswegs zur bedürfnislosen Masse reduzieren. Das Verlangen nach weltlicher Verausgabung rebellierte dabei gegen die Moral der Mäßigung und eckte an den zivilisatorischen Absichten der Kirche an. Gleich nach der Sozial- demokratie - unter diesem Oberbegriff wurden sowohl der Streik als auch die Gewerkschaft subsumiert - galt besonders die Sucht nach Vergnügung und Genuss als zweites Gespenst der Zeit. Als Nachfolger für den "Volksverein für das katholische Deutschland" konstituierte sich am 3. Januar 1895 der "Verband der katholischen Berg- und Hüttenarbeiter-Vereine im Saarrevier" unter Leitung von Pfarrer Oesterling, der um die Jahrhundertwende über 9.000 Mit- glieder zählte. Denn wie in den Zeiten des Kulturkampfes trat der soziale Widerspruch wieder als konfessioneller Gegensatz auf und ließ sich somit gut durch die Zentrumspartei unmittelbar für politische Zwecke instrumentalisieren. Der Waffenstillstand unter dem Banner der sozialen Befriedung war bald vorbei. Die große Mehrheit der Saarbergleute blieb wie eh und je im Schoß der Kirche - weltanschaulich aufgehoben im katholischen Glauben, emotional eingebettet in die Gemeinschaftserlebnisse der religiösen Liturgie, sozial verankert in Kirchengemeinde und konfessionellem Vereinswesen, politisch vertreten von der Zentrumspartei - und es ließ sich aber die Uhr nicht einfach zurückstellen. Die Erfahrungen der großen Streikzeit wirkten im kommenden "saarabischen Jahr- zehnt" der Friedhofsruhe als lähmend-negatives Lernerlebnis, als die soziale Frage der Lehrmeinung der Kirche unterworfen wurde. Mit der Zeit säkularisierte sich auch der Anlass zum Feiern Stück für Stück und war nicht mehr länger unbedingt vom existierenden kirchlichen Festkalender abhängig. Die spezifischen Kultformen des Katholizismus - Messe, Andachten und Exerzitien, Wallfahrten, Bittgänge und Prozessionen, die verschiedenen Ausprägungen der Heiligenverehrung - boten die mystische Vertiefung, die dem wieder- kehrenden proletarischen Alltag in seiner "Mischung aus Verärgerung und bescheidenen Vergnügungen" fehlte. Diese Kulthandlungen waren ein Garant für die Kompensation einer bedrohten Gegenwart und gaben gleichzeitig Erlösungsversprechen für eine imaginäre Zukunft. Bei diesem Umfeld verhalf die katholische Kirche den Bergleuten zur Distanzierung vom protestantisch geprägten Obrigkeitsstaat und dem real vorherrschenden Liberalismus, fesselte sie aber auch durch die Gebote der Demut und Mäßigung, des Gehorsams und der Unter- ordnung im Rahmen des Status quo. Die katholische Kirche im Saarrevier war also in dieser Zeit die herausragende Institution des sozialen Protests und der sozialen Friedhofsruhe in einem. Diese Verhältnisse änderten sich aber erst nach dem I. Weltkrieg, als die politischen Verhältnisse in der Weimarer Republik einen günstigen Boden für die Sozialdemokratie einerseits und für die Einheitsgewerkschaften andererseits schufen. Josef Theobald
ANMERKUNGEN
[1] Der Vollständigkeit halber sei hier noch auf die deutsche Einzelausgabe (Friedrich Engels - Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft) aus China verwiesen, die 1976 in Beijing erstmals erschien (Seiten 59/60). [2] Auch unter den Bezeichnungen "Saarkohlenbecken" und "Saarkohlengebiet" bekannt. Dieses Gebiet war begrenzt von den Flüssen Saar, Nahe, Blies, östlich bis zur Rhein- pfalz, westlich bis nach Lothringen reichend, 40 km lang, 10 - 30 km breit, mit etwa 45.400 Millionen t Kohlenreich- tum; Ausbeute 1904: 10.461 t, Belegschaft 46.617 Köpfe. (Brockhaus' Kleines Konversationslexikon von 1906, der zweite Band, signierter Nachdruck 2000, Seite 581) Beschreibung der Saargegend in der LANDESKUNDE DER PREUSSISCHEN RHEINPROVINZ, ursprünglich herausgegeben von Dr. Adolf Pahde, erschienen bei Ferdinand Hirt, Breslau 1908, die Seiten 24 und 25. (Nachdruck bei MELCHIOR VERLAG Wolfenbüttel) Your browser may not support display of this image. [3] Das Zentrum, die älteste Partei Deutschlands aus der Zeit vor 1848, war eine bürgerliche katholische Partei, die seit 1870 im Reichstag vertreten war. Sie verband vor allem den deutschen Mittelstand, aber auch zu einem Teil sowohl das Kleinbürgertum als auch das Proletariat unter ihrem Einfluss. [4] Die Nationalliberale Partei bestand seit 1866 und war bis zum Umschwung in der Wirtschaftspolitik im Reichstag die stärkste Partei. Später bildete sein rechter Flügel mit der Fortschrittlichen Vollspartei die Deutsche Volkspartei. Hier vereinte sich die Großindustrie mit einem großen Teil der Finanzwelt. [5] Die Freikonservativen waren eine gemäßigte konservative Partei, die als Deutsche Reichspartei im Reichstag bekannt wurde. Später bildete diese mit anderen konservativen und gemäßigt-konservativen Elementen die Deutschnationale Volkspartei. Ihre soziale Basis bestand zum größten Teil aus den Großgrundbesitzern. Zu ihnen zählten aber auch Großindustrielle, die Finanzwelt und sogar ein Teil aus der Arbeiterschaft, wie Eisenbahner und Postangestellte.
[6] W. I. Lenin - Marx Engels Marxismus, "Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion", Beijing (China)1980, Seite 322. Im Vergleich dazu die Moskauer Ausgabe von 1947, Seite 205.
[7] "Der Sang von Lao Fumtse" soll ein chinesisches Gedicht aus den Kohlenbergwerken der Provinz "Shanxi" in China sein. Hier liegen nach mir vorliegenden Quellen die größten Kohlenressourcen Chinas mit einem Anteil von einem Drittel des Gesamtvorkommens. Die hier nicht tief liegende Kohle gibt es in guter Qualität und in verschiedenen Arten. Es ist aber hier einzuwenden, dass es zur Zeit der Abfassung des Gedichtes viele dubiose Geschichten aus fernen Ländern gab, deren Glaubwürdigkeit nicht immer gesichert war. LITERATURHINWEIS Als Vorlage für dieses Thema diente die Ausarbeitung von Klaus- Michael Mallmann mit dem Titel "Aus des Tages Last machen sie ein Kreuz des Herrn..."? (Bergarbeiter, Religion und sozialer Pro- test im Saarrevier des 19. Jahrhunderts), erschienen 1986 in dem Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in der Reihe "Geschichte und Gesellschaft" im Sonderheft II "Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte", herausgegeben von Wolfgang Schieder. Dr. phil. Mallmann ist Fernsehjournalist beim Saarländischen Rundfunk und ist bekannt für viele Veröffentlichungen im Bereich Sozial- und Kulturgeschichte des Saarlandes im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts. Zum Zwecke der besseren Veranschaulichung des Themas war der Autor bestrebt, dieses Thema aus einer globalen Perspektive zu betrachten.
ÜBER DEN AUTOR Der Autor, Jahrgang 1956, von seiner Ausbildung her ursprünglich aus dem Gebiet der Betriebswirtschaft kommend, ist nun mittlerweile seit über 30 Jahren mit verschiedenen Themenbereichen wie Sinologie, Theologie, Kirchengeschichte, Sozialismusgeschichte und auch anderen verwandten Wissenschaftsdisziplinen beschäftigt. So war er stets bemüht, vor allem einschlägige Literaturquellen aus der relevanten Zeit bei seinen gemachten Ausführungen mit einzubeziehen.
|
Links zu ähnlichen Angeboten von RODENA: RODENA Ferienkurse in Roden, RODENA Heimatkunde Saarlouis-Roden
|
Bitte beachten Sie, dass alle Texte unter der erweiterten AWDL publiziert wurden. Sollten Sie Fragen dazu haben, wenden Sie sich bitte per E-Mail an die Redaktion. |