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Die Geschichte der Arbeiterbewegung im Saarrevier

von Josef Theobald

 

 

Die Geschichte der Arbeiterbewegung im Saarrevier

Im Allgemeinen werden die Zustände während der industriellen

Revolution wie folgt skizziert:

"Der Dampf und die neue Werkzeugmaschinerie verwandelten die

Manufaktur in die moderne große Industrie und revolutionierten da-

mit die ganze Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Der schläf-

rige Entwicklungsgang der Manufakturzeit verwandelte sich in eine

wahre Sturm- und Drangperiode der Produktion. Mit stets wachsender

Schnelligkeit vollzog sich die Scheidung der Gesellschaft in große Ka-

pitalisten und besitzlose Proletarier, zwischen denen, statt des frühern

stabilen Mittelstandes, jetzt eine unstete Masse von Handwerkern und

Kleinhändlern eine schwankende Existenz führte, der fluktuierendste

Teil der Bevölkerung... Aber schon damals erzeugte sie schreiende

soziale Mißstände: Zusammendrängung einer heimatlosen Bevölke-

rung in den schlechtesten Wohnstätten großer Städte - Lösung aller

hergebrachten Bande des Herkommens, der patriarchalischen Unter-

ordnung, der Familie - Überarbeit besonders der Weiber und Kinder

in schreckenerregendem Maß - massenhafte Entsittlichung der plötz-

lich in ganz neue Verhältnisse, vom Land in die Stadt, vom Ackerbau

in die Industrie, aus stabilen in täglich wechselnde unsichere Lebens-

bedingungen geworfenen arbeitenden Klasse." (Marx/Engels ,Ausge-

wählte Schriften in zwei Bänden, Band II im Dietz Verlag, Berlin-Ost

1966, Seite 111) [1]

Die Antwort hierauf war die Bildung der Sozialdemokratischen

Arbeiterpartei, die sich in zwei Stufen entwickelte. So kam es

erst im Mai 1875 zum Gothaer Vereinigungskongress, indem

der lassalleanische Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (dem

rechten Flügel) mit der Eisenacher Partei unter August Bebel

und Wilhelm Liebknecht (dem linken Flügel) vereinigt wurden.

Erst im Oktober 1891 wurde auf dem Erfurter Parteitag ein im

Vergleich zum früheren Gothaer Programm fortschrittlicheres

Parteiprogramm verabschiedet.

Im Saarrevier [2] verlief die Bildung einer Arbeiterbewegung im

wesentlichen anders. Hier spielte vor allem der konfessionelle

Gegensatz zwischen der protestantischen Oberschicht und der

katholischen Unterschicht eine wesentliche Rolle, der zu einer

Etablierung der deutschen Zentrumspartei gerade in diesem

Raum beitrug.

Dabei führte das Erlebnis einer Krisenanfälligkeit proletarischer

Existenz an der Saar zu einem wohl einzigartigen Aufschwung

der Volksfrömmigkeit. Das Trauma des sozialen Abstiegs wurde

hier durch Parteinahme für die im Kulturkampf bedrohte Kirche

beantwortet.

Die kleine sozialdemokratische Parteigruppe, die eineinhalb

Jahre vergebens versucht hatte, im Saarrevier Fuß zu fassen,

war im September 1877 in fast gänzlicher Auflösung begriffen.

Während die Gruben und Hütten an der Saar zu Beginn des

19. Jahrhunderts ein noch kaum nennenwertes Ventil für den

wachsenden Bevölkerungsdruck boten, brachte plötzlich der

Eisenbahnbau den Durchbruch. Die Zahl der Bergarbeiter in

den preußischen Saargruben stieg überproportional. So be-

trug sie im Jahre 1850 erst 4.580, 1870 bereits 15.662. Die

Siedlungsverteilung um 1800 wurde während der industriellen

Revolution gar auf den Kopf gestellt. Denn die Agrargebiete im

Norden und Nordwesten gaben ihren Bevölkerungsüberschuss

an das Bergbaurevier ab; sie blieben jedoch weiterhin Arbeiter-

rekrutierungszone und zugleich Wohnort für gut ein Drittel der

Belegschaft. Die schon 1575 reformierte Grafschaft Nassau-

Saarbrücken besaß seit der Mitte der 1850er Jahre auf einmal

eine katholische Bevölkerungsmehrheit. Da standen 1875 in

den preußischen Saargruben 17.318 katholischen Bergleuten

6.069 evangelische Kollegen gegenüber. Im Ergebnis kamen

die katholischen Bergarbeiter, die aus kurtrierischen und auch

lothringischen Gebieten zuwanderten oder einpendelten, als

Fremdkörper in eine protestantisch dominierte Welt.

Die meisten Zivil- und Bergbeamten, Händler und Handwerks-

meister der Industriegemeinden lebten oft nicht nur in einem

anderen Sozialmilieu, sie unterschieden sich auch ferner im

Glaubensbekenntnis. Die sozialen und kulturellen Unterschiede

deckten sich mit den konfessionellen; der politische Gegensatz

zwischen Zentrum und Liberalismus kam schließlich als weitere

Widerspruchsebene hinzu.

In der Religionssoziologie wird der berufliche Erfolg im Kreis

der Protestanten mit dem kalvinistischen Einfluss begründet,

der vor allem dazu führte, dass in der unsichereren Vorstellung

hinsichtlich des Auserwähltseins die Menschen danach streben,

durch ununterbrochene Arbeit und systematischer Selbstkontrolle

Zuversicht in die göttliche Gnade zu gewinnen und die Gemütsruhe

zu wahren. Dies förderte die Rationalisierung des Berufslebens.

Durch den Prozess der Modernisierung der regionalen Wirtschaft

geriet die bäuerliche Weltordnung und der bisherige Horizont der

gewohnten Sinngebung ins Wanken. Umso heftiger klammerten

sich die Bergarbeiter der ersten Generation an die Religion als

Orientierungsmedium, umso wichtiger wurden die überlieferten

Traditionen der Volksfrömmigkeit, wurden Normen und Formen

des dörflich ererbten Brauchsystems. Für die katholischen Klein-

bauern, die sich mit einem Mal als Industriearbeiter in der vor Ort

spürbaren protestantisch dominierten bürgerlichen Gesellschaft

wiederfanden, gewann die Religion als Instrument der Lebens-

deutung und Weltorientierung neue Bedeutung. Sie ermöglichte

Rückzug und Identität, erfüllte das Bedürfnis nach Vergemein-

schaftung, garantierte das Ergebnis emotionaler Geborgenheit

und die Entlastung von Schuldgefühlen, während der neue Alltag

immer wieder das Moment der Ausgrenzung und der Heimatlosig-

keit bereit hielt. Das katholische Glaubensbekenntnis wurde zum

wichtigen Element proletarischer Überlebensstrategie, zum not-

wendigen Fluchtpunkt der Arbeiterexistenz.

Der Kultus und das soziale Eigenleben der katholischen Kirchen-

gemeinden wurden ein Kraftquell zur Selbstbehauptung innerhalb

einer von protestantischer Leitungsethik geprägten Gesellschaft,

die sich bedrohlich schnell veränderte. Katholischer Glaube und

Proletarisierung wurden in den Jahrzehnten des "großen Spurts"

an der Saar weitgehend als identisch empfunden. Diese Gleich-

setzung prädestinierte einerseits den Katholizismus in Richtung

einer Unterschichtenreligion, andererseits machte sie aber das

protestantische Bürgertum und die Bauernschaft im Saarrevier

verständnisloser.

Die mit der Romantik einsetzende katholische Bewegung hatte

sich bei der Konstituierung neuer innerkirchlicher Strukturen zu

einem frühen Zeitpunkt das Prinzip des Vereinswesens zunutze

gemacht. In Anlehnung an die organisatorischen Vorbilder der

Kolping'schen Gesellenvereine und der marianischen Sodalitäten

gründete der Ottweiler Pfarrer Johann Anton Joseph Hansen am

2. Dezember 1865 die erste St. Barbara-Bruderschaft, vier Jahre

später den ersten Knappenverein im Saarrevier. Indem die Bruder-

schaften die religiöse Komponente betonten, strichen die Knappen-

vereine die gesellige Seite heraus. Ein gewähltes Mitglied leitete

als Präfekt die Organisation, aber durch die Präsidesverfassung

behielten die Ortsgeistlichen jedoch den bestimmenden Einfluss.

Während die Ottweiler St. Barbara-Bruderschaft 1863 zur Erz-

bruderschaft erhoben wurde und sich in den folgenden Jahren

Filialkongregationen in den meisten Bergarbeiterorten angliederte,

beschloss eine Konferenz in Neunkirchen am 4. September 1867

die Bildung eines allgemeinen "Saarbrücker Knappenvereins" mit

Sitz in Dudweiler; damit löste der dortige Pfarrer Matthias Oester-

ling Hansen als geistiges Oberhaupt der katholischen Bergmanns-

vereine ab. Außerdem verstanden sich Knappenvereine und St.

Barbara-Bruderschaften als Traditionsträger der ständischen

Bergbauverfassung; in enger Verbindung mit der populären

Hagiographie vermittelten sie die Tugenden der Genügsamkeit,

Pflichterfüllung und Subordination, der Entsagung und duldsamen

Bescheidenheit und verlängerten so die Erziehungsintentionen des

preußischen Bergfiskus in die Privatsphäre.

Die neuen Organisationen fungierten in erster Linie als Instrumente

pfarrgemeindlicher Seelsorge und Mission und stellten sich weiterhin

die Aufgabe der "sittlichen Veredelung" durch Belehrung und Gebet.

Als religiöse und soziale Stütze in einer noch fremden Umgebung,

als Ort der Akkulturation und Vergemeinschaftung entsprachen sie

durchaus den Bedürfnissen ihrer Mitglieder, deren Engagement im

gleichen Maße in der Hoffnung auf ein Jenseits und im Geselligkeits-

verlangen begründet war.

Der das Jahr umspannende katholische Festkalender bestimmte auch

die bergmännischen Vergnügungs- und Geselligkeitsformen, bot eine

religiöse Sinngebung und gleichzeitig Entlastung vom Alltag, schuf

gleichermaßen den Anlass zu trinkfreudiger Ausgelassenheit und

zur liturgischen Feier. Regierung und Bergverwaltung versuchten

zwar mehrfach, die Kirchweihfeste auf einen Tag zusammen zu

legen und das rege Wirtshausleben durch einen Konzessions-

stopp einzuschränken, dennoch blieben Alkohol und Kneipe

eine der wenigen kollektiven Vergnügungen, die in den Berg-

arbeiterdörfern zu Gebote standen. Trotz des pfarrherrlichen

Jammers über den durchgängigen Mangel an keuchen Braut-

paaren wurden die Konsequenzen einer vorehelichen Sexualität

durch frühe Heirat aufgefangen. Die Kinder wurden einfach ehelich

gemacht, wie der gebräuchliche Terminus bis in unsere Tage lautet.

Die Hochzeit mit schwarzem Schleier brachte religiöse Moral und

Geschlechtlichkeit wieder in Einklang. Zwischen der kirchlich pro-

klamierten Sittlichkeit und dem Alltagsverhalten der erzkatholischen

Bergarbeiter klafften also Lücken; die Moral der Amtskirche und die

Moral des Volkes deckten sich keineswegs.

Im Wahlkreis Saarburg-Merzig-Saarlouis mit einer erdrückenden

katholischen Bevölkerungsmehrheit und der weitgehend fehlenden

Großindustrie verlief der Formationsprozess des Zentrums [3] trotz

der einsetzenden staatlichen Repressionen relativ problemlos; seit

dem 22. September 1872 erschien hier die "Saar-Zeitung", die in

kurzer Zeit zum Sprachrohr der katholischen Interessen im Revier

wurde. Der Wahlkreis Saarbrücken mit seinen drei Saarstädten war

eine liberale [4] Hochburg, Ottweiler-St. Wendel-Meisenheim galt als

die Domäne der Freikonservativen [5]. Der junge Kaplan Georg Fried-

rich Dasbach, der bald zum katholischen Pressezar der Rheinprovinz

avancierte, sollte über drei Jahrzehnte hinweg für das Zentrum die

politische Eroberung vorantreiben.

Der Prozess der Proletarisierung, der als Statusverlust, als eine

Erfahrung betrieblicher und gesellschaftlicher Herrschaft erlebt

wurde, bildete seinen sozialen Resonanzboden. Der kommende

Zusammenprall sowohl von vorindustrieller Lebenswelt als auch

aufgezwungener Produktionsdisziplin fand Entsprechung, Echo

und Überhöhung im Zusammenstoß zwischen jungem National-

staat und katholischer Kirche. Die Parteinahme der Bergarbeiter

im Kulturkampf unter Bismarck war eigentlich Protest gegen die

religionspolitischen Ansprüche des neuzeitlichen Staates, aber

auch Protest gegen die verfolgten Strategien der wirtschaftlichen

und gesellschaftlichen Modernisierung, die die Bergleute den

Zwängen einer verordneten Arbeitsmoral unterwarfen. So gelang

es dem katholischen Klerus im folgenden Jahrzehnt, den während

des Kulturkampfes gewonnenen Kredit politisch zu nutzen und sich

als Interessenvertreter der Unterschichten zu profilieren; das die

Siebziger Jahre beherrschende kirchenpolitische Thema trat in

der Phase der Milderungsgesetze allmählich zurück, die Sozial-

politik schob sich in den Vordergrund. Denn die Lage der Arbeiter

im großen Industrie- und Bergwerksgebiet an der Saar (Kohlen-

revier) war von aktueller Bedeutung.

In den damaligen revolutionären Kreisen galt aber dieser Kultur-

kampf als eine Torheit (Dummheit), da er so die Aufmerksamkeit

gewisser Schichten der Arbeiterklasse und die Demokratie von

den dringenden Aufgaben des revolutionären Kampfes auf einen

ganz oberflächlichen und bürgerlich-verlogenen Antiklerikalismus

ablenkte. Bismarck habe infolge dieses Kampfes den streitbaren

Klerikalismus der Katholiken nur gestärkt. [6]

Nach der Camphauser Grubenkatastrophe am 18. März 1885 -

unter denen 180 Toten waren 154 Katholiken - beschuldigten

"St. Johanner Zeitung" und "Saar-Zeitung" die Bergbehörde,

zu wenig für die Sicherheit der Bergarbeiter zu unternehmen.

Seitdem avancierte Kaplan Dasbach quasi zur Beschwerde-

instanz der Bergleute. 1887 wirkte er an der Gründung des

"Sozialpolitischen Vereins für den Industriebezirk Saarbrücken

mit, der Material über die Lage der Bergarbeiter sammelte und

der von Franz Hitze redigierten Zeitschrift "Arbeiterwohl" zur

Verfügung stellte. Im selben Jahr konstituierte sich eine soziale

Konferenz des Saarklerus unter Vorsitz des Sulzbacher Pfarrers

Hermann Laven, der eine wirkungsvolle Satire gegen die sozialen

Zustände im Saarrevier verfasste, die 1881 unter dem Titel "Der

Sang von Lao Fumtse" zunächst im Feuilleton der "Saar-Zeitung"

erschien. Dabei ging es hier um das Leben des Bergmannes Lao

Fumtse [7] und schließlich um eine Enthüllung der allseits üblich

gewordenen Korruptionspraktiken in den Saargruben.

Hatte man bisher die materiellen Interessen im katholischen

Arbeitervereinswesen negiert, in patriarchalischer Absicht auf

Organisationen mit dem Zweck der Arbeiterbetreuung gesetzt,

so beugte man sich jetzt der normativen Kraft des Faktischen.

Der Rechtsschutzverein schien also für diese Intentionen wie

geschaffen: Katholiken bildeten hier die absolute Mehrheit der

Mitglieder, Sozialdemokraten waren nicht existent. Die junge

Bergarbeiterorganisation an der Saar drängte sich damit als

ein Experimentierfeld für die Tragfähigkeit einer katholischen

Gewerkschaftsstrategie gerade zu auf. Sie bot die Chance

der Gewinnung des Reviers für das Zentrum, aber auch die

Gefahr einer Entwicklung zur autonomen Gewerkschaft.

Allmählich setzte sich auch im aristokratisch-konservativen

Honoratiorenflügel die Meinung durch, dass bei der augen-

blicklich veränderten Lage nicht die Abwehr gegen Angriffe

auf den Protestantismus Vorrang haben müsse, sondern die

Bekämpfung des Antichristentums und der sozialen Irrtümer

der Gegenwart. Bei diesem Hintergrund entstand im Oktober

1890 der "Volksverein für das katholische Deutschland" als

ein antisozialistischer Bildungsverein zur Propagierung einer

christlichen Sozialreform.

Mit dieser Drehung um die eigene Achse des politischen

Katholizismus in Deutschland begann im Saarrevier eine

Distanzierung des Klerus von der Bergarbeiterbewegung.

Fortan stand im Vordergrund eine Immunisierung gegen

die Sozialdemokratie und ein Appell an die "Reform der

Herzen" rückte in den Mittelpunkt der Versammlungen.

Diese neuen gesellschaftlichen Grundwerte des plötz-

lichen Gesinnungswandels schöpfte man aus dem

klösterlichen Leben, wie Armut, Gehorsam, sexuelle

Enthaltsamkeit. Dies hatte schließlich zur Folge, dass

eine Mitarbeit katholischer Arbeiter in den bestehenden

Gewerkschaften im klerikalen Lager kaum noch seine

Befürworter fand. In dieser Situation wurde dann in der

Fuldaer Pastorale vom 23. August 1890 bereits schon

eine konfessionell orientierte Fachvereinsbewegung

angekündigt, die sich als Rechtsschutzverein in Halle

ebenfalls an der Gründung des Bergarbeiterverbandes

beteiligte. Damit waren die beiden wichtigsten Linien in

der Beziehung der Bergleute zur Kirche und Religion in

der Streikzeit: Festhalten am religiösen Brauchtum und

gleichzeitige Absage an klerikale Bevormundung, also

ein ambivalentes Verhältnis, das naturgemäß Irritationen

mit sich bringen musste, das eine Zerreißprobe innerhalb

der Bergarbeiterschaft herbeiführte, je mehr die Kirche die

alten Forderungen nach Loyalität gegen das gerade neu

entstandene Kollektivbewusstsein ins Spiel brachte.

Allerdings wurde dem Klerus die "Position eines natürlichen

Führers" zunehmend abgestritten und von der Kirche mehr

Abstinenz in gewerkschaftlichen Fragen gefordert. Weiter

ist der Raum beruflicher und sozialer Interessenvertretung

als eigenes Territorium reklamiert worden. Allein die Religion

an sich, ebenso die Autorität des Kaisers, blieb hier die wohl

herrschende Legitimationsgrundlage beim Protest.

Die hierdurch erreichte partielle Emanzipation vom Regelwerk

des kirchlich gebilligten Verhaltenskodex besaß darüber hinaus

eine wichtige Stütze im Alltagsleben. Bei aller Frömmigkeit ließ

sich die Bergarbeiterbevölkerung keineswegs zur bedürfnislosen

Masse reduzieren. Das Verlangen nach weltlicher Verausgabung

rebellierte dabei gegen die Moral der Mäßigung und eckte an den

zivilisatorischen Absichten der Kirche an. Gleich nach der Sozial-

demokratie - unter diesem Oberbegriff wurden sowohl der Streik

als auch die Gewerkschaft subsumiert - galt besonders die Sucht

nach Vergnügung und Genuss als zweites Gespenst der Zeit.

Als Nachfolger für den "Volksverein für das katholische Deutschland"

konstituierte sich am 3. Januar 1895 der "Verband der katholischen

Berg- und Hüttenarbeiter-Vereine im Saarrevier" unter Leitung von

Pfarrer Oesterling, der um die Jahrhundertwende über 9.000 Mit-

glieder zählte. Denn wie in den Zeiten des Kulturkampfes trat der

soziale Widerspruch wieder als konfessioneller Gegensatz auf und

ließ sich somit gut durch die Zentrumspartei unmittelbar für politische

Zwecke instrumentalisieren. Der Waffenstillstand unter dem Banner

der sozialen Befriedung war bald vorbei.

Die große Mehrheit der Saarbergleute blieb wie eh und je im Schoß

der Kirche - weltanschaulich aufgehoben im katholischen Glauben,

emotional eingebettet in die Gemeinschaftserlebnisse der religiösen

Liturgie, sozial verankert in Kirchengemeinde und konfessionellem

Vereinswesen, politisch vertreten von der Zentrumspartei - und es

ließ sich aber die Uhr nicht einfach zurückstellen. Die Erfahrungen

der großen Streikzeit wirkten im kommenden "saarabischen Jahr-

zehnt" der Friedhofsruhe als lähmend-negatives Lernerlebnis, als

die soziale Frage der Lehrmeinung der Kirche unterworfen wurde.

Mit der Zeit säkularisierte sich auch der Anlass zum Feiern Stück

für Stück und war nicht mehr länger unbedingt vom existierenden

kirchlichen Festkalender abhängig. Die spezifischen Kultformen

des Katholizismus - Messe, Andachten und Exerzitien, Wallfahrten,

Bittgänge und Prozessionen, die verschiedenen Ausprägungen der

Heiligenverehrung - boten die mystische Vertiefung, die dem wieder-

kehrenden proletarischen Alltag in seiner "Mischung aus Verärgerung

und bescheidenen Vergnügungen" fehlte. Diese Kulthandlungen waren

ein Garant für die Kompensation einer bedrohten Gegenwart und gaben

gleichzeitig Erlösungsversprechen für eine imaginäre Zukunft.

Bei diesem Umfeld verhalf die katholische Kirche den Bergleuten zur

Distanzierung vom protestantisch geprägten Obrigkeitsstaat und dem

real vorherrschenden Liberalismus, fesselte sie aber auch durch die

Gebote der Demut und Mäßigung, des Gehorsams und der Unter-

ordnung im Rahmen des Status quo. Die katholische Kirche im

Saarrevier war also in dieser Zeit die herausragende Institution

des sozialen Protests und der sozialen Friedhofsruhe in einem.

Diese Verhältnisse änderten sich aber erst nach dem I. Weltkrieg,

als die politischen Verhältnisse in der Weimarer Republik einen

günstigen Boden für die Sozialdemokratie einerseits und für die

Einheitsgewerkschaften andererseits schufen.

Josef Theobald

ANMERKUNGEN

[1] Der Vollständigkeit halber sei hier noch auf die deutsche

Einzelausgabe (Friedrich Engels - Die Entwicklung des

Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft) aus China

verwiesen, die 1976 in Beijing erstmals erschien (Seiten

59/60).

[2] Auch unter den Bezeichnungen "Saarkohlenbecken" und

"Saarkohlengebiet" bekannt. Dieses Gebiet war begrenzt

von den Flüssen Saar, Nahe, Blies, östlich bis zur Rhein-

pfalz, westlich bis nach Lothringen reichend, 40 km lang,

10 - 30 km breit, mit etwa 45.400 Millionen t Kohlenreich-

tum; Ausbeute 1904: 10.461 t, Belegschaft 46.617 Köpfe.

(Brockhaus' Kleines Konversationslexikon von 1906, der

zweite Band, signierter Nachdruck 2000, Seite 581)

Beschreibung der Saargegend in der LANDESKUNDE

DER PREUSSISCHEN RHEINPROVINZ, ursprünglich

herausgegeben von Dr. Adolf Pahde, erschienen bei

Ferdinand Hirt, Breslau 1908, die Seiten 24 und 25.

(Nachdruck bei MELCHIOR VERLAG Wolfenbüttel)

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[3] Das Zentrum, die älteste Partei Deutschlands aus der Zeit

vor 1848, war eine bürgerliche katholische Partei, die seit

1870 im Reichstag vertreten war. Sie verband vor allem den

deutschen Mittelstand, aber auch zu einem Teil sowohl das

Kleinbürgertum als auch das Proletariat unter ihrem Einfluss.

[4] Die Nationalliberale Partei bestand seit 1866 und war bis

zum Umschwung in der Wirtschaftspolitik im Reichstag

die stärkste Partei. Später bildete sein rechter Flügel mit

der Fortschrittlichen Vollspartei die Deutsche Volkspartei.

Hier vereinte sich die Großindustrie mit einem großen Teil

der Finanzwelt.

[5] Die Freikonservativen waren eine gemäßigte konservative

Partei, die als Deutsche Reichspartei im Reichstag bekannt

wurde. Später bildete diese mit anderen konservativen und

gemäßigt-konservativen Elementen die Deutschnationale

Volkspartei. Ihre soziale Basis bestand zum größten Teil

aus den Großgrundbesitzern. Zu ihnen zählten aber auch

Großindustrielle, die Finanzwelt und sogar ein Teil aus der

Arbeiterschaft, wie Eisenbahner und Postangestellte.

[6] W. I. Lenin - Marx Engels Marxismus, "Über das Verhältnis

der Arbeiterpartei zur Religion", Beijing (China)1980, Seite

322. Im Vergleich dazu die Moskauer Ausgabe von 1947,

Seite 205.

[7] "Der Sang von Lao Fumtse" soll ein chinesisches Gedicht

aus den Kohlenbergwerken der Provinz "Shanxi" in China

sein. Hier liegen nach mir vorliegenden Quellen die größten

Kohlenressourcen Chinas mit einem Anteil von einem Drittel

des Gesamtvorkommens. Die hier nicht tief liegende Kohle

gibt es in guter Qualität und in verschiedenen Arten. Es ist

aber hier einzuwenden, dass es zur Zeit der Abfassung des

Gedichtes viele dubiose Geschichten aus fernen Ländern

gab, deren Glaubwürdigkeit nicht immer gesichert war.


LITERATURHINWEIS

Als Vorlage für dieses Thema diente die Ausarbeitung von Klaus-

Michael Mallmann mit dem Titel "Aus des Tages Last machen sie

ein Kreuz des Herrn..."? (Bergarbeiter, Religion und sozialer Pro-

test im Saarrevier des 19. Jahrhunderts), erschienen 1986 in dem

Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in der Reihe "Geschichte

und Gesellschaft" im Sonderheft II "Volksreligiosität in der modernen

Sozialgeschichte", herausgegeben von Wolfgang Schieder. Dr. phil.

Mallmann ist Fernsehjournalist beim Saarländischen Rundfunk

und ist bekannt für viele Veröffentlichungen im Bereich Sozial-

und Kulturgeschichte des Saarlandes im Verlauf des 19. und 20.

Jahrhunderts. Zum Zwecke der besseren Veranschaulichung des

Themas war der Autor bestrebt, dieses Thema aus einer globalen

Perspektive zu betrachten.

 

ÜBER DEN AUTOR

Der Autor, Jahrgang 1956, von seiner Ausbildung her ursprünglich

aus dem Gebiet der Betriebswirtschaft kommend, ist nun mittlerweile

seit über 30 Jahren mit verschiedenen Themenbereichen wie Sinologie,

Theologie, Kirchengeschichte, Sozialismusgeschichte und auch anderen

verwandten Wissenschaftsdisziplinen beschäftigt. So war er stets bemüht,

vor allem einschlägige Literaturquellen aus der relevanten Zeit bei seinen

gemachten Ausführungen mit einzubeziehen.

 

 

 

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